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03. Januar 2005

Die Schrift auf der Mauer

Aus einer Reihe von Interviews mit Palästinensern, die direkt an der Mauer wohnen. Drei Fragen werden gestellt: Welchen Einfluss haben die Mauer und die Checkpoints auf dein tägliches Leben? Was bedeutet „Freiheit“ für dich? Welches sind deine Energiequellen? Die Interviews wurden von Toine van Teffelen für die Webseite der United Civilians for Peace, eine Dachorganisation niederländischer Entwicklungs- und Friedensorganisationen, geführt.

Terry Boullata: „Stück für Stück wurde die Mauer fühlbarer“

Ich bin 38 Jahre alt, und ich komme aus Jerusalem. Ich bin hier geboren und ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, und ich bin stolz darauf. Ich habe vor 14 Jahren einen Mann aus Abu Dis geheiratet, der eine ID-Karte der West Bank besitzt. Ich besitze eine ID-Karte von Jerusalem. Ich habe Jerusalemer Schulen besucht und dann an der Universität von Birzeit studiert. Während der ersten Intifada wurde ich vier mal verhaftet, das letzte Mal, als ich gerade als Mitarbeiterin für eine Menschenrechtsorganisation gearbeitet habe, wurde ich nach einer Intervention des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter und Frau Mitterands entlassen. Später habe ich meine eigene Privatschule in Abu Dis eröffnet, da ich dachte, ich sollte bei der Entwicklung des Ortes helfen, in dem ich lebe. Ich öffnete die Schule im Jahr 1999 mit Darlehen von Agenturen und Banken, und es funktioniert noch. Insgesamt habe ich 225 Kinder vom Kindergarten bis zur 5. Klasse.
Aber dieses Jahr habe ich 77 Kinder während des Baus der Mauer verloren, die weniger als einen halben Kilometer von der Schule entfernt ist. Wegen des Einkommensverlusts arbeite ich jetzt nebenher als Mitarbeiterin für die Palästinensische Kampagne für Freiheit und Frieden, die in diesem Jahr während des Besuchs von Dr. Arun Gandhi, eines Schwiegersohns Mahatma Gandhis, ins Leben gerufen wurde.

Abu Dis, Azzariyyeh und Sawahreh (Ortschaften östlich von Jerusalem) sind vollkommen von den Palästinensergebieten isoliert. Sie sind ein eigener Bezirk, ein Ghetto. Auf der Ostseite der Mauer gibt es jetzt 70.000 Menschen ohne Zugang zu einem vernünftigen Gesundheitswesen, weder in Jerusalem noch in den selbstverwalteten Palästinensergebieten. Wenn man nicht nach Jerusalem kann, ist das nächste Hospital in Jericho, eine halbe Autostunde entfernt. Und der Checkpoint von Jericho ist nach acht Uhr abends geschlossen.

Mein Haus ist historisch Teil von Abu Dis. Aber 1967 annektierten die Israelis das Gebiet, und es wurde Jerusalemer Gebiet entsprechend israelischem Recht. Nach internationalem Recht ist es Teil der besetzten Gebiete. Als wir heirateten, hatte das eigentlich keine wirkliche Bedeutung, da das Gebiet zur West Bank hin noch offen war. Die Grenzlinie gab es auf der Karte, nicht in Wirklichkeit. Aber im August 2002 wachten wir plötzlich auf und sahen, dass die Armee den Jerusalemer Checkpoint vor den Eingang von Abu Dis verschoben hatte. Und sie hatten einen Meter hohe Zementblöcke geholt. Wir begannen mit den Soldaten zu streiten, da sie uns manchmal den Zugang nach Jerusalem und manchmal in die Westbank verwehrten. Stück für Stück wurde die Mauer fühlbarer. Tag für Tag holten sie mehr LKW mit Zementblöcken, die in Übereinstimmung mit der israelischen Karte von Jerusalem aufgestellt wurden. Stück für Stück wurde unsere Nachbarschaft mehr vom Zentrum von Abu Dis getrennt, von der Familie meines Ehemanns, und von meiner eigenen Schule. Bis zum Januar 2004 konnten wir noch über die einen Meter hohe Mauer springen, die damals dort stand. Da mein Haus auf einem Hügel steht, konnte ich noch leichter über den einen Meter springen. Aber in dieser Zeit war ich zweimal schwanger und ich verlor beide Kinder, was vom Springen kam. Aber das war der einzige Weg, um zu meiner Schule zu kommen.

Meine Nachbarschaft wurde über Nacht von einem Wohngebiet in eine militärische Zone verwandelt. Der Lebensstil in der Nachbarschaft änderte sich völlig. Männer, Frauen, Kinder – jeder sprang über die Mauer an deren niedriger Stelle bei unserem Haus. Jeden Morgen versuchten die Kinder auf beiden Seiten der Mauer, ihre Schulen auf der anderen Seite zu erreichen, auch die Kinder von der Westseite, die auf meine Schule auf der Ostseite gingen. Man konnte ständig Kinder unter Tränengas und Lärmbomben über die Mauer springen sehen. Jeden Tag. Der frühe Morgen und der Nachmittag waren genau die Zeitpunkte, an denen die Arme kam, um die Grenzgänger zu schikanieren. Die Grenzpolizei hatte ein Militärcamp gegenüber meinem Haus, wo sie sich hinsetzten und aßen und tranken.

Sie kamen, um uns besser kennenzulernen. In unserer Nachbarschaft leben nur 13 Familien, und wir wohnen an der höchsten Stelle, so dass die Armee oder die Grenzpolizei ständig kam und um unser Haus herum saß. Aber sie schikanierten mich weiterhin und fragten nach meiner ID-Karte. Ich sagte ihnen: „Ihr kennt mich und ihr wisst, dass ich zu meiner Schule gehe, und ihr wollt immer noch meine ID-Karte?“ Meine Familie renovierte das nahegelegene Cliff-Hotel, das später konfisziert wurde. Sie ärgerten uns: „Warum renoviert ihr das Hotel, wir werden es euch doch wegnehmen“ „Nimm Geld, lass es uns mieten, das ist viel besser für euch“. Wegen der Armeejeeps mit ihrem Tränengas, die immer da waren, konnte ich meinen Kindern nicht erlauben, in der Nachbarschaft zu spielen.

Der Ausbau der Mauer, von einem Meter auf neun Meter Höhe und sechs Meter von unserem Haus entfernt, fand im Januar 2004 statt. Die Überquerung von unserem Haus aus wurde natürlich unmöglich, und wir mussten nach neuen Wegen suchen, uns nach Abu dis zu schleichen. Mein Mann ist ein Westbanker, er kann nicht nach Jerusalem. Ich als Jerusalemerin konnte jedoch auf einer israelischen Umgehungsstraße den Weg um die Mauer herum nehmen und Abu Dis von der anderen Seite betreten. Es wurde eine einstündige Fahrt zu meiner Schule statt der normalen einminütigen. Wenigstens konnte ich noch fahren, aber mein Ehemann musste nach den niedrigsten Teilstücken der Mauer, an denen immer noch gebaut wurde und die noch keine neun Meter hoch waren, Ausschau halten und von einem Hügel aus springen oder durch schmale Durchgänge gehen.

Wenn jedoch früher oder später die Mauer fertiggestellt ist, wird er nicht mehr durch Springen zum Haus zurück kommen können. Kürzlich konnte mein Ehemann – er ist Händler, er verkauft Steine – eine Erlaubnis bekommen, die es ihm gestattet, von fünf Uhr morgens bis sieben Uhr abends in Jerusalem zu sein. Nach sieben Uhr lebt und schläft er illegal bei uns. Mein Mann fürchtet, dass er jeden Moment aus dem Haus geworfen werden kann. Das ist eine der Sachen, über die wir Witze machen. Oder dass er über die Mauer nach Abu Dis springt und nicht zurückkommen kann. Andere Cousins aus der Nachbarschaft, die hier Grundeigentum besitzen, aber Westbank-ID-Karten haben, leben illegal in ihrem eigenen Besitz. Wenn sie keine Jerusalemer ID-Karten oder Aufenthaltsgenehmigungen bekommen, können sie rausgeworfen werden und ihr Besitz kann in absentee properties umgewandelt werden (um vom israelischen Staat konfisziert zu werden). Khaled, unser Vetter, wurde drei mal inhaftiert, buchstäblich beim Betreten seines eigenen Hotels, des Cliff Hotels. Und das Schlimme daran ist, dass sie im Mai 2004 eine Siedlung gleich hinter unserem Haus gründeten. Sie heißt Kidmat Zion, mit 250 Wohneinheiten, was nichts anderes bedeutet als die Ankunft von 15.000 israelischen Siedlern. Der berühmte Moskovics (Jüdisch-amerikanischer Philanthrop, der den Bau von Siedlungen in Ost-Jerusalem sponsort) ist natürlich derjenige, der mit dieser Siedlung begonnen hat, und natürlich mit Beihilfe und Zustimmung der israelischen Regierung. Diese Siedlung wächst auf unsere Kosten und wird unsere Nachbarschaft verdrängen.

Freiheit bedeutet für mich, mit meinem Mann Salah und den Kindern zusammen zu sein, ein Familienleben zu haben und mich frei bewegen zu können. Dass wir z.B. gemeinsame Zeit am Wochenende verbringen können. Ich kann nicht einfach mit Salah in die West Bank gehen. Jericho ist ein bekannter Wintererholungsort. Aber ich kann nicht nach Jericho gehen als Jerusalemerin. Es ist einfacher für ihn als West-Banker, Jericho zu betreten. Auf der anderen Seite kann Salah nicht mit mir nach Jerusalem kommen. Obwohl er eine Erlaubnis hat, wird ihm oft der Zutritt verweigert, zum Beispiel wenn die Israelis eine general closure („Generalschließung“?) verhängen. Die Mauer deprimiert uns alle. Keine Familienmitglieder können uns besuchen, daher nehmen wir die Mühe auf uns und besuchen sie. Statt dass wir und die anderen Familienmitglieder zum Picknick gehen, besuchen wir sie nur zu Hause. Es wird langweilig für unsere Kinder. Mein Mann verliert auch an Einkommen. Niemand baut Häuser, und daher verkauft er nicht viele Steine.
Du läufst, läufst, läufst vom den Checkpoints zum deinen Zielen und am Ende des Tages hast du grade genug, um all die Rechnungen zu bezahlen. In Jerusalem musst du so viele Steuern bezahlen.

Salah sagt heutzutage manchmal: Lass uns in die Westbank ziehen. Er und seine eigene Familie haben dort ein Haus, was die Aufwendungen für Miete, Rechnungen und Steuern vermindern würde. Aber ich kann das nicht machen, denn in dem Moment, in dem ich in der West Bank lebe, verliere ich mein Aufenthaltsrecht in Jerusalem. Ich bekomme kein anderes Aufenthaltsrecht, da die palästinensische Autonomiebehörde keine ID-Karten an Jerusalemer ausgibt, die ihre ID-Karte verloren haben. Sie haben den Anspruch, dass sie keine Jerusalemer ermutigen wollen, Jerusalem zu verlassen. Ein Umzug nach Abu Dis würde für mich ein grausameres Leben ohne jeden Ausweg bedeuten, ich könnte nur in Abu Dis leben, ohne den Ort verlassen zu können.

Ich kann nur atmen, wenn ich zu einer Konferenz außerhalb reise. Trotz der Schikane an der Grenze kommst du raus und siehst die Welt. Das ist Teil unserer persönlichen Freiheit, rauszukommen, eine Freiheit, die meinem Mann verwehrt wird. Er kann nicht reisen, die Jordanier erlauben ihm nicht, durch Jordanien zu reisen.
Wir wollen als Familie die Freiheit haben, zu leben wo wir wollen, und das ist nicht leicht. Ich sage zu ihm: Ich will nicht in einem kleineren Ghetto leben. Ja, Ost-Jerusalem ist ein Ghetto, aber es ist ein ein wenig größeres Ghetto als Abu Dis. Ich will mehr Möglichkeiten für meine Töchter. Auf der Jerusalemer Seite können sie Musik- oder Ballettklassen besuchen. Ich bin eine Mittelklassefrau, ich will, dass einige dieser Möglichkeiten für meine Tochter offen stehen. Er sagt, wenn sie ihn rauswerfen, will er in der West Bank bleiben, er will die Schikanen nicht mehr. Das würde bedeuten, dass er die Mädchen für ein paar Tage mitnimmt, und dass sie zurückkommen müssten und ein paar Tage mit mir leben.
So wäre die ganze Familie betroffen, wenn die Israelis Saleh wirklich aus der Gegend entfernen würden. Wir müssten uns zwischen meiner Familie und der Familie meines Mannes entscheiden, und auch zwischen einem Leben als Familie und der Trennung.

Am Ende des Tages bin ich eine Mutter. Wie ich immer sage und womit ich prahle: Wir haben Leben geschaffen. Daher müssen wir Hoffnung schaffen.
Du hast keine andere Möglichkeit, als zu überleben, um für deine Kinder da zu sein. Ich behalte die Hoffnung und Kreativität und Leichtigkeit und Spaß, um zu überleben, und um meinen Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Viele Palästinenser teilen diese Einstellung, die einzige Hoffnung besteht für unsere Kinder. Das ist nicht leicht. Jetzt arbeite ich in Ramallah. Es ist so frustrierend, jeden Tag in der Warteschlange am Checkpoint von Kalandia zu stehen, für 1 ½ oder 2 Stunden manchmal, wenn nicht länger. Wenn ich zurück nach Hause komme, bin ich völlig erschöpft. Ich habe keine Zeit oder Energie meine Töchter zu verwöhnen, ich muss schnell kochen, putzen, sie zu Bett bringen. Es ist manchmal so frustrierend und ermüdend.
Aber am Ende des Tages musst du diese Frustration noch überwinden. Tagträume? Nein, mein einziger Tagtraum, tatsächlich mein Albtraum, ist, dass ich nach Hause komme und Salah nicht zurückkommen kann. Zum Beispiel wenn ich in Kalandia festsitze und Saleh nicht nach Hause kommen kann, weil er auf der anderen Seite der Mauer festsitzt, und die Kinder alleine zu Hause bleiben. Man weiß es nie. Oder wenn irgend etwas während des Tages passiert, und ich sitze auf der einen Seite fest und meine Tochter auf der anderen.

Ich bin jetzt eine Aktivistin. Was mir manchmal Hoffnung gibt, ist, dass ich mehr mit der presse spreche und mit israelischen Gruppen. Ich empfange viele israelische Delegationen, die kommen, um die Mauer zu sehen. Manchmal bin ich glücklicher, Israelis zu empfangen, als Fremde. Wenn sich die israelische Sicht der Dinge ändert, kann das unser Leben einfacher machen, da sie mehr Einfluss innerhalb ihrer eigenen Gesellschaft haben. Ich glaube, dass ich auf Lobbyebene oder durch Kampagnen mehr und mehr innerhalb der israelischen Gesellschaft arbeiten sollte. Wir als Palästinenser haben noch einen langen Weg vor uns, um unsere Belange stärker zu artikulieren, aber es gibt mir Hoffnung, wenn ich sehe, wie Israelis diskutieren, zuhören, besonders wenn sie sehen, dass die Mauer keinen Sinn für ihre Sicherheit macht. Und dass sie lediglich Palästinenser voneinander trennt. Uns mehr und mehr leiden zu lassen und uns mehr und mehr auf die Straße zu setzen, ist auch für sie schlecht. Du redest mit Intellektuellen und der jungen Generation. Besonders die Jungen geben uns einige Hoffnung. Manchmal kommen einige Entscheidungsträger wie Mitglieder der Knesset, oder die israelischen Medien besuchen uns und schreiben über uns. Du siehst die Angst, die ihnen die Mauer macht, nicht nur uns. Wenn wir mit diesen Israelis zusammenarbeiten, werden wohl viele von ihnen die Seite wechseln. Sie sind aktiver geworden gegen die Besatzung und das Zeichen der Besatzung, das die Mauer ist.

Vor kurzem haben wir „Künstler gegen die Mauer“ gegründet. Ich bin kein Künstler, aber wegen meines Arbeitsbereichs sprachen mich palästinensische und israelische Künstler an und fragten, wie sie mir helfen können. So kamen im April 2004 palästinensische und israelische Künstler zusammen, um die Mauer transparent zu machen, indem sie Monitore, Projektoren und Lichter wie in einer Videokonferenz installierten. Die Leute auf beiden Seiten konnten sich sehen und miteinander reden. Das gibt den Leuten Hoffnung, die im Ghetto leben und die uns zugehört und uns gesehen haben. Das sind Hoffnungsschimmer, die ich von Zeit zu Zeit sehen kann. Wir als Opfer müssen hart arbeiten, um den Tätern klarzumachen, was sie uns auf der menschlichen Ebene antun. Auf unserer Seite ist nicht jeder davon überzeugt. Viele Leute sind in ihrem eigenen Ärger und ihrer Frustration gefangen, und ich kann das verstehen.. Ich identifiziere mich nicht damit, besonders wenn es zu Selbstmordanschlägen kommt, aber ich verstehe, was in diesen Leuten vorgeht. Und das ist es, was wir den Israelis sagen müssen: Versetzt euch in unsere Lage.
Könnt ihr euch vorstellen, die tägliche Demütigung an den Checkpoints und der Mauer hinzunehmen, die noch nicht mal Sinn für die Sicherheit macht?

Interview: 8.12.2004
Übersetzung: Kai Claaßen

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